Estland ist nicht irgendein Land, das einige Dinge gut macht. Estland ist “the place to be right now”. Uns Deutschen fällt es schwer sich vorzustellen, was Estland bereits geschafft hat und was in den nächsten Monaten und Jahren noch kommen wird. Dabei wirken die Esten manchmal so, als wüssten sie nicht, was Besonderes in ihrem Land passiert. Marketing für Estland machen meist andere: Diejenigen, die dort zu Besuch waren, die verschiedenen Show-Rooms, Startups und Acceleratoren besucht und mit Unternehmern und Politikern gesprochen haben. 

Es ist kein Zufall, dass Estland eine der höchsten Gründungsraten pro Kopf in Europa hat. Die durchschnittliche Zahl von Startup-Gründungen in Europa liegt bei fünf per 100,000 Einwohner. Die Zahl in Estland ist sechsmal höher als dieser europäische Durchschnitt, womit Estland mit aktuell ca. 450 Startups den dritten Platz in Europa einnimmt!   

Estland hat ein Klima für Startups geschaffen, das es wohl nur ein Mal auf der Welt gibt. Dies trägt bereits Früchte. Estland ist derzeit –wie kaum ein anderes Land – einer der Geburtsorte von Unicorn Startups. Startups also, die nicht an der Börse gelistet sind und deren Bewertung über einer Millarde Dollar liegt. Im Moment gibt es vier davon: Skype, Playtech, TransferWise und Taxify. Es werden aber bald weitere folgen, ein sehr vielversprechender Kandidat ist z.B. das Lieferroboter-Startup Starship Technologies. Je nachdem, welche Definition verwendet wird, hat Deutschland mit einer Bevölkerung die Estland um ca. 80 Millonen Bürger übersteigt  nach den Börsengängen von Zalando und Rocket Internet ungefähr genauso viele Unicorns.

Was macht Estland im Startup-Bereich anders?

Im Global Startup Ecosystem Report 2017 heißt es dazu: „Estlands Mischung aus intelligenter Infrastruktur, grenzüberschreitenden Visa-Programmen und Startup-Solidarität garantiert der Welt, dass es uns mehr wegweisende Technologien bringen wird, wie Estland es mit Skype getan hat und jetzt auch mit Transferwise tun“.

Im Folgenden habe ich zehn Beispiele aufgeführt, warum sich Gründer genauer mit Estland beschäftigen sollten:

  1. Früh übt sich. Esten werden ermutigt, Techies zu werden. Kinder in der Grundschule haben Computerunterricht, Programmierungskurse und in ausgewählten Gymnasien wird sogar gelehrt, wie man Blockchain Apps baut! Schüler haben Unterricht in Startup-Zentren, z.B. im Technologiepark Spark in Tartu. Seit 1999 sind alle estnischen Schulen ans Internet angeschlossen und es werden fast überall digitale Klassenbücher genutzt. Auch die Universitäten beziehen bereits die Kleinsten ein. Am MEKTORY (Modern Estonian Knowledge Transfer Organisation foR You) der Technischen Universität Tallinn gibt es ein von Lego gesponsertes Lab, in dem Lego-Serious-Play/Robotics gespielt wird. Nicht von Managern wie in Deutschland, sondern von vier bis siebenjährigen Kindern. An der Technischen Universität ist mit Studenten auch ein eigener Satellit entwickelt worden, der im Januar 2019 in die Umlaufbahn der Erde geschossen wird. Laut der aktuellsten PISA-Studie der OECD sind estnische Kinder auf Platz 1 in Europa und Platz 3 in der Welt.

Estland ist auch das erste Land das einen Gesetzesentwurf verfasst hat, der den Status von Künstlicher Intelligenz (KI) in einer rechtlichen Auseinandersetzung regeln soll. Es gibt zwei diskutierte Alternativen: Entweder soll die Künstliche Intelligenz bzw. ein so genannter Robot Agent eine eigene rechtliche Persönlichkeit erhalten, wie z.B. eine GmbH oder die KI wird als ein Objekt definiert, das jemandem gehört, der für dieses Objekt verantwortlich ist.

Jeder Este hat eine ID-Card, Ausländer können die E-Resident-Card beantragen. Mit der ID-Card kann fast alles online erledigt werden: Firmengründungen, Fahrkartenkauf, Einreichen der Steuererklärung, Abrufen von Rezepten und Arztbefunden, Wählen, Banking, Bücherausleihe, Eigentumsübertragung von Fahrzeugen und Nutzung anderer KfZ-Dienstleistungen. Sie dient aber u.a. auch als Ausweis, Fahrerregisternachweis, Reisedokument, Krankenkarte, Verschlüsselungstool und digitale Signatur.

Estland ist dazu übergegangen die Schnittstellen dieser Karte für Unternehmen zu öffnen, so dass mit weiteren Funktionalitäten zu rechnen ist. Treuepunkte im Supermarkt kann man bereits sammeln. Darüber hinaus wird gerade eine Community-Plattform entwickelt, die aufgrund der Datenbasis und der angebundenen Services sehr viel besser und funktionaler als Facebook werden könnte.  

  1. A small Country needs to think big. Estland hat nur ca. 1,3 Millionen Bürger und ist damit ein sehr kleines Land. Der Nachteil des kleinen estnischen Heimatmarkt (Bruttoinlandsprodukt 20.659 Millionen Euro), ist aber eher ein Vorteil. Er führt dazu, dass die Startups sofort andere Märkte erschließen müssen und viel schneller internationalisieren. Esten denken daher zuerst global. Dabei hilft, dass die Arbeitssprache in der Regel Englisch ist.

Gibt es auch Gründe die gegen Estland sprechen? Ich habe lange nachgedacht: Moskitos. Ansonsten werden die meisten Probleme durch die Gesetze anderer Länder verursacht. 

Der Autor Jan Schnedler ist Startup-Anwalt und hat das Buch Startup Recht geschrieben. Die Eindrücke aus Estland hat er auf einer Delegationsreise nach Tallinn und Tartu gewonnen, an der auch Hamburger Professoren, Startup-Unternehmer, Familienunternehmer und die Innovations Kontaktstelle teilgenommen haben.